Fatales Signal: Professionelles Handeln ist strafbar!
Das BfZ dokumentiert an dieser Stelle eine Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft Streetwork/ Mobile Jugendarbeit e.V.:
Fatales Signal: Professionelles Handeln ist strafbar!
Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Streetwork/ Mobile Jugendarbeit e.V. zur Verurteilung von Fanprojekt-Mitarbeiter*innen wegen versuchter Strafvereitelung durch Aussageverweigerung in Karlsruhe
Die Verurteilung dreier Fanprojekt-Mitarbeiter*innen in Karlsruhe zu hohen Geldstrafen (28.10.2024) entsetzt uns. Die im Prozess wahrnehmbare Geringschätzung der Sozialen Arbeit, die im Raum stehenden Vorwürfe, die Kolleg*innen würden als verlängerter Arm der Fußballfans agieren und die in der Verurteilung mündende Härte des Gesetzes sorgen in der Sozialen Arbeit für Empörung und Unverständnis. Als Fachverband für die Arbeitsfelder Streetwork und Mobile Jugendarbeit erklären wir uns solidarisch mit den betroffenen Sozialarbeiter*innen. Wir stehen hinter ihnen und ihrer Arbeit sowie ihrem Professionsverständnis und ihrer Haltung!
Die Folgen dieses Urteils, das noch nicht rechtskräftig ist, sind noch nicht in Gänze absehbar, weder für die Arbeit der Fanprojekte noch für die Soziale Arbeit insgesamt. Dennoch erscheint es unabdingbar, einige bereits wahrnehmbare Konsequenzen zu verdeutlichen. Dabei bezieht sich diese Stellungnahme primär auf die Arbeitsfelder Streetwork und Mobile Jugendarbeit, vieles davon ist jedoch auf weite Teile der Sozialen Arbeit übertragbar.
Folgen des Urteils für Mobile Jugendarbeit und Streetwork
Streetwork und Mobile Jugendarbeit haben den gesellschaftlichen Auftrag, schwer erreichbare Menschen aufzusuchen, deren Lebensumstände häufig von sozialer Ausgrenzung, Stigmatisierung, Armut und Perspektivlosigkeit geprägt sind. Häufig wird an diese Arbeitsfelder die Erwartung geknüpft, einen Beitrag zur Reduzierung der Kriminalität zu leisten. Hierzu ist zunächst festzustellen, dass Straftaten für viele der erreichten Menschen Teil ihrer Lebenserfahrung sind. Sei es als Phänomen abweichenden (und strafrechtlich relevanten) Verhaltens in der Phase des Aufwachsens, als scheinbare Überlebensnotwendigkeit auf der Straße oder – und dies dürfte für die Mehrheit charakteristisch sein – als Opfer von Diebstahl, Gewalt, Misshandlung im Laufe ihres Lebens und in ihrer aktuellen risikobehafteten Lebenssituation. Somit haben wir es oftmals mit Betroffenen zu tun, die sowohl Opfer als auch Täter*innen in einer Person sind. Mithilfe unseres akzeptierenden und parteilichen Arbeitsansatzes begegnen wir diesen Menschen im Verständnis, dass die Aufarbeitung und Thematisierung von Straftaten zielgerichtet im Sinne einer langfristigen Verbesserung der Lebenssituation der betreffenden Person erfolgen müssen.
Für Opfer von Straftaten geht es nicht per se und unmittelbar um die strafrechtliche Verfolgung, Ermittlung und strafprozessuale Verurteilung der jeweiligen Täter*innen. Dennoch und gerade deshalb sind für sie vertrauliche Gespräche in beratender, aufklärender, entlastender und unterstützender Funktion von entscheidender Bedeutung. Hierzu ist ein Grundvertrauen in unsere Angebote notwendig, aus welchem eine belastbare Arbeitsbeziehung entstehen kann.
Für Straftäter*innen sind die strafrechtliche Verfolgung und eine mögliche Verurteilung in vielen Fällen nicht die relevanten Aspekte, die nachhaltig zu einer Verantwortungsübernahme und Verhaltensänderung führen. Streetwork und Mobile Jugendarbeit leisten mit ihrer professionellen Arbeit einen Beitrag, dass nicht nur Rechtsfrieden geschaffen wird, sondern auch Reflexion, Verhaltensänderung und im besten Fall Versöhnung stattfinden können.
Gefährdung der Prävention und des Vertrauensverhältnisses
Im Gegensatz zur polizeilichen oder gesundheitlichen Prävention, die mit einer Verhinderungs- und Vermeidungslogik verbunden ist, dominiert bei der sozialarbeiterischen Prävention eine Förderungs- und Ermöglichungslogik.[1] Es geht um den Aufbau, den Erhalt und die Stärkung von unterstützenden und fördernden Strukturen sowie Angeboten, die Menschen positiv beeinflussen. Nach diesem Verständnis trägt präventive Arbeit bei entsprechenden Rahmenbedingungen zur Entwicklung konstruktiver Lebensperspektiven und somit auch zu einer langfristigen und nachhaltigen Reduzierung von Kriminalität bei.
Die Verurteilung der drei Sozialarbeiter*innen ist auch aus diesen Gründen für die Arbeitsfelder Mobile Jugendarbeit und Streetwork so dramatisch, weil die notwendige professionelle Nähe zu Opfern wie Täter*innen, die detaillierte Thematisierung von erlebten oder begangenen Straftaten, um dem gesellschaftlichen Auftrag gerecht zu werden, unmittelbar gefährdet sind:
- Wir als Sozialarbeiter*innen können die Vertraulichkeit von Informationen, die in irgendeiner Weise – direkt oder indirekt – für strafrechtliche Ermittlungen relevant sein könnten, nicht mehr garantieren.
- Als Sozialarbeiter*innen sind wir vor dem Hintergrund des Karlsruher Urteils verpflichtet, dies gegenüber unseren Adressat*innen transparent zu machen und damit Beratungsprozesse von vornherein zu belasten und den Adressat*innen eine schwierige rechtliche Bewertung zu überlassen.
- Es dürfte leicht nachvollziehbar sein, dass diese Offenheit gleichzeitig nicht zum Aufbau eines so notwendigen Vertrauensverhältnisses beiträgt. Statt belastbarer und kritischer Beziehungen riskieren wir oberflächliche Beziehungen, die der vollen Wirksamkeit unserer Arbeit nicht gerecht werden können.
- Schließlich müssen wir uns als Sozialarbeiter*innen auch persönlich vor Belastungen und strafrechtlichen Konsequenzen schützen, müssen wegschauen, weghören oder können nicht nachfragen. Dies alles, um nicht auch vor dem Dilemma zu stehen: die Arbeitsgrundlage und das Vertrauensverhältnis zu unseren Adressat*innen zu schützen oder die eigene Straffreiheit zu bewahren.
Dringender Handlungsbedarf: Reform des § 53 StPO
Die derzeitige Rechtssituation, die viele Sozialarbeiter*innen seit langem umtreibt, wird spätestens mit diesem Urteil Studierende fragen lassen, ob eine Beschäftigung in der Sozialen Arbeit mit diesem einhergehenden Berufsrisiko das Richtige ist. Der bereits bestehende und vielerorts dramatische Fachkräftemangel in der Sozialen Arbeit, insbesondere in niedrigschwelligen Arbeitsfeldern, wird sich weiter verschärfen.
Um dem gesellschaftlichen Auftrag auch zukünftig nachkommen zu können, die Arbeitsgrundlagen der Sozialen Arbeit und insbesondere unserer Handlungsfelder Streetwork und Mobile Jugendarbeit zu schützen und die Arbeit auch in risikobehafteten Kontexten zu ermöglichen, bedarf es der Herstellung von Rechtssicherheit durch die Reform des § 53 StPO. Zu diesem Ergebnis kommt auch der 17. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung.[2] Soziale Arbeit braucht ein strafprozessuales Zeugnisverweigerungsrecht. Diskussionsvorschläge liegen durch die verschiedenen Rechtsgutachten bereits vor.[3],[4] Die Umsetzung dieses politischen Vorhabens ist verfassungskonform möglich und fachlich dringend erforderlich!
Appell an die Profession
Wir begrüßen das Engagement der Arbeiterwohlfahrt (AWO) im Bündnis für ein Zeugnisverweigerungsrecht und fordern die anderen Wohlfahrtsverbände auf, sich für den Schutz ihrer Mitarbeiter*innen und ihrer Arbeitsgrundlagen zu engagieren und Anstrengungen zu unternehmen, die auf eine Reform des § 53 StPO hinauslaufen.
Wir appellieren an Streetworker*innen, die derzeitige Rechtssituation in Bezug auf ihre Arbeit zu reflektieren und Maßnahmen zu entwickeln, die das Vertrauensverhältnis zu den eigenen Adressat*innen bestmöglich schützen. Ziel muss auch weiterhin sein, ihnen Unterstützung, Beratung und Begleitung zukommen zu lassen. Gleichzeitig sind Streetworker*innen gefordert, sich persönlich zu schützen und damit für die langfristige Bereitstellung ihrer Angebote zu sorgen. In diesem Dilemma eine klare, professionelle Haltung zu entwickeln, wird Grundlage für nachhaltige und so wirksam wie mögliche Mobile Jugendarbeit und Streetwork sein!
Chemnitz, den 14.12.2024
Geschäftsführender Vorstand der BAG Streetwork/ Mobile Jugendarbeit e.V.
[1] Landesarbeitsgemeinschaft Mobile Jugendarbeit/Streetwork Baden-Württemberg e.V. (Hg.) (2023): Fachliche Standards für Mobile Jugendarbeit in Baden-Württemberg.
[2] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2024): Bericht über die Lage junger Menschen und die Bestrebungen und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe. 17. Kinder- und Jugendbericht, S. 79 & S. 506.
[3] Simon, T./; Schruth, P. (2018): Strafprozessualer Reformbedarf des Zeugnisverweigerungsrechts in der Sozialen Arbeit. Am Beispiel der sozialpädagogischen Fanprojekte im Fußball. 1. Auflage. Frankfurt am Main: Deutscher Olympischer Sportbund e.V.
[4] Raabe, B. (2023): Zeugnisverweigerungsrecht in der Sozialen Arbeit. Rechtsgutachten im Auftrag des AWO Bundesverbandes e. V. Hg. v. AWO Bundesverband e. V.